Ein zentrales Tabu der Gesellschaftstechnokraten fällt: Sie sprechen offen aus, dass sie sich für Mehrheiten nur so lange interessieren, wie sie ihnen nützen. Anderenfalls geht es auch ohne. Von Gramsci geht es wieder zurück zu Lenin.
Bisher hieß es von wohlmeinenden Politikern und Journalisten aus dem Hauptstrom, die Menschen seien ja längst so weit; jedenfalls die meisten oder wenigstens viele; sie zeigten schon die nötige Einsicht in die Notwendigkeit und müssten nur noch, wie es in der gleichen Rhetorik heißt, abgeholt und mitgenommen werden. Jetzt setzt sich offenbar nach und nach die Erkenntnis durch, dass sich die große Durchtransformation nicht mit einer Ordnung vereinbaren lässt, in der die Mehrheit noch eine Rolle spielt. Denn diese Mehrheit will sich einfach nicht abholen und zum großen Endziel befördern lassen. Das weniger wichtige von beiden muss demnach zwangsläufig fallen.
Für die Wohlmeinenden zeigen sich die Grenzen der kulturellen Hegemonie nach Gramsci. Trotz ihrer Feinheit schafft sie offenbar selbst mit erheblichem Aufwand keine echten Mehrheiten. Auf diesen Umstand reagieren sie mit einer selbstverständlich sehr modern inszenierten methodischen Rückkehr zu Lenin, der nie auf die Idee kam, seine Ziele an Mehrheitsverhältnisse anzupassen.
Natürlich bieten die Wohlgesinnten auf Nachfrage auch Erklärungen an, weshalb sich die Mehrheit so anstellt, gemäß dem Satz der 3. Hexe in Macbeth: „Wir geben Antwort.“ Es liegt an der mangelnden Aufgeklärtheit der Leute, am billigen Populismus – Populismus, in den kein Staatsgeld fließt, kann nur billig sein –, vor allem und hauptsächlich aber daran, dass Menschen sich eben an das Gewohnte klammern. Dafür bringen die Transformatiker sogar Verständnis auf. Bei ‚Deckel drauf und durch‘ handelt es sich nach ihrem Verständnis demnach um eine Art Schonverfahren. Statt die Stur- und Strukturkonservativen durch Diskussionen weiter zu verunsichern, kommen die Problemfälle in den gesamtgesellschaftlichen Schmortopf, um dort in einem neuen und besseren Zustand aufzuwachen, wenn jemand um das Jahr 2035 den Deckel wieder abnimmt.
Nur wenige Menschen wehren sich generell gegen Veränderungen. Aber fast alle, so fremd das vielleicht in den Ohren der Bessergestellten klingt, die sich für immun halten, sträuben sich gegen Verschlechterungen in eigener Sache.
Aber zurück zur Methode ‚Deckel drauf‘: Es gehört also nicht mehr zu den Tabus progressiver Kreise, sich für Herrschaftsausübung ohne Legitimation auszusprechen. Für die Vorsitzende des Ethikrats Alena Buyx beispielsweise steht es außer Frage, dass Bürger nicht einfach ganz privat über ihre Nahrungsaufnahme entscheiden dürfen.
Große organisatorische Einheiten dienen als Treibhäuser für postdemokratisches Denken. Es diffundiert von dort langsam nach unten in die Gesellschaft. Ganz ähnlich wie der EU-Apparat denkt man auch in der EZB und einem bisher noch weitgehend unbekannten Gremium, der „Better Than Cash Alliance“. Ab kommendem Jahr möchte die EZB ihr digitales Zentralbankgeld, wie es heißt, ausrollen.
Nach dem digitalen Euro ruft keine Mehrheit, noch nicht einmal eine qualifizierte Minderheit. An diesem Beispiel zeigt sich die ganz selbstverständlich betriebene Verschiebung in die Postdemokratie: Es findet gar keine größere öffentliche Debatte mehr statt, wer das Digitalgeld überhaupt wünscht, und wem es nützt.
In der Zeit der Machtverschiebung gewinnen Gebilde eine immer größere Rolle, die noch über Entitäten wie der EU und der EZB schweben. Dazu gehört die oben erwähnte Better Than Cash Alliance mit Sitz in New York. Schon die Definition fällt nicht ganz leicht. Sie selbst nennt sich eine „UN-basierte Organisation, tatsächlich gehören etliche UN-Unterorganisationen zu der Allianz, die elektronische Bezahlsysteme weltweit fördert. Aber auch eine ganze Reihe von Regierungen, außerdem internationale Großunternehmen wie H & M und Unilever, dazu Stiftungen wie die Bill & Melinda Gates Foundation und die Clinton Foundation.
Aber welche Mehrheit ruft nach dieser Entwicklung? Wer gibt dem Bundesministerium das Mandat, bei diesem Homunkulus aus UN-Bürokratie, Staaten, Konzernen und Stiftungen mitzumischen? Was gibt es eigentlich zu verbergen, wenn die Absichten lauter sind?
Schon nach kurzer Suche lassen sich auf Spiegel Online gleich mehrere Beiträge finden, die elektronische Bezahlsysteme nicht nur einfach positiv beschreiben, sondern mehr oder weniger suggerieren, so sähe der unvermeidliche Weg in die Zukunft aus.
Alle oben beschriebenen Entwicklungen führen zu dem gleichen Punkt: Es gibt keine Mehrheiten für einen EU-Einheitsstaat, in keinem einzigen Mitgliedsland. Es gibt keine Mehrheit für einen EU-Beitritt der Schweiz. In Deutschland (und anderswo) möchte sich eine Mehrheit nicht den ohnehin schon bescheidenen Wohlstand zugunsten eines klimagerechten Wohlstands für wenige wegtransformieren lassen.
Die meisten halten essen (und wohnen, reisen, heizen) für Privatangelegenheiten. Und gut zwei Drittel bis drei Viertel der Leute nutzen zwar Karten, möchten aber die Alternative des Bargelds behalten. Für eine CO2-und-Konsumüberwachungsgesellschaft gibt es nur wenige Unterstützer aus einem kleinen Milieu, und nichts spricht dafür, dass sich diese Größenverhältnisse bald ändern.
Die Befürworter der großen Veränderung für das Leben anderer Leute zeigen keine Bereitschaft, sich von Bürgern rote Linien ziehen zu lassen. Dem können sie aus übergeordneten Gründen nicht nachgeben.
Die Idealvorstellung der Transformierer besteht darin, dass unter dem möglichst fest angedrückten Deckel die Idee des Bürgers selbst zerfällt. Das kann passieren. Schließlich existierte diese gesellschaftliche Figur nicht schon immer, sondern erst seit einigen Jahrhunderten.
Andererseits argumentiert es sich auch für die Gegner dieser Entwicklung leichter. Sie sparen es sich, in Zukunft noch glibberige Begriffshüllen wie unsere Demokratie zu sezieren.
Deckel drauf und die Bürger wegtransformieren